am 18. Januar 1871, also vor 150 Jahren wurde das Deutsche Reich gegründet. Der preußische König wurde als Wilhelm I. zum Deutschen Kaiser ausgerufen. Für die meisten Deutschen erfüllte sich nach jahrhundertelanger staatlicher Zerrissenheit der Traum von der Reichseinheit, der Zusammenführung der Deutschen in einem Staatswesen.
Es gab aber auch vielfältige Kritik an der Verwirklichung dieses Staatsmodells: Es war die sogenannte kleindeutsche Lösung unter preußischer Führung und dem Ausschluss Deutsch-Österreichs. Erst recht hatten sich die Vorstellungen derer nicht erfüllt, die mit der Reichseinheit eine umfassende demokratische Staatsordnung angestrebt hatten.
Die Art freilich, in der viele in unserem Land heute der Reichsgründung gedenken, eines der historisch entscheidenden Großereignisse der deutschen Geschichte, zeigt: Ein sachlicher, nicht ideologisch gefärbter Umgang mit unserer Geschichte fällt manchen Deutschen schwer. Wir unterscheiden zu wenig zwischen nationaler Begeisterung, die damals vorherrschte, und nationalistischer Überheblichkeit, die wir zu Recht sehr kritisch sehen. Ihre extremen Formen haben sich jene zunutze gemacht, die für die entsetzlichen Katastrophen des 20. Jahrhunderts entscheidend verantwortlich sind. Zwei verlorene Weltkriege, vor allem aber das fürchterliche und verwerfliche Geschehen, das mit dem Begriff ‚Auschwitz‘ auf den historischen und moralischen Tiefpunkt Deutschlands gebracht ist, stehen einer überzogenen nationalen Selbstbetrachtung für alle Zeit entgegen.
Aber wir dürfen mehr als 75 Jahre “danach“ auch sagen: Die Deutschen – oder jedenfalls die überwältigende Mehrheit von ihnen – haben aus der Geschichte gelernt. Es gibt heute einen breiten politischen, vor allem aber moralischen Konsens gegen Nationalismus und Rassismus. Dieser Konsens umfasst alle demokratischen Kräfte.
Dem widerspricht nicht, dass es unterschiedliche Einordnungen und Bewertungen der deutschen Geschichte der letzten 150 Jahre und auch des “Zweiten Reiches“ gibt. Das ist in einer pluralistischen Gesellschaft nicht nur möglich, sondern selbstverständlich, und das gilt gerade auch für die Geschichtswissenschaft.
Die Freiheit der Wissenschaft ist als Grundrecht in der besten Verfassung verankert, die Deutschland je hatte, in unserem Grundgesetz. Mit einem solchen Gut sollten wir verantwortungsbewusst umgehen. Ausgangspunkt unserer historischen Betrachtung kann nicht eine vorgefasste Meinung, möglicherweise ein (partei-)politischer Standpunkt von heute sein. Wenn wir das frühere Geschehen sachlich und möglichst unvoreingenommen betrachten, müssen wir die Dinge sehen und beschreiben, wie sie gewesen sind, sie in den zeitgeschichtlichen Kontext einordnen – und gerade im Falle der Reichsgründung und des Verlaufs der Geschichte dieses Reiches auch unter Berücksichtigung internationaler Bezüge und im Vergleich mit anderen europäischen Staaten.
Deutschland entwickelte sich nach 1871 zu einem modernen Staat, und es hatte durchaus eine Vorbildfunktion für andere Staaten: Es gab auf Reichsebene ein allgemeines und gleiches Wahlrecht, wenn auch – der Zeit entsprechend – nur für Männer, jüdische Mitbürger erhielten durch die Reichsverfassung erstmals in der deutschen Geschichte die vollen Bürgerrechte. Deutschland war ein Rechtsstaat, und auch das gehört zu den Grundlagen für einen ungeheuren wirtschaftlichen Aufschwung, die Entwicklung einer zukunftsfähigen Infrastruktur, vor allem aber: Eine herausragende wissenschaftliche Blüte, und zwar keineswegs nur in den Naturwissenschaften und im technologischen Bereich. Soweit das ein Maßstab sein kann: Bei den Nobelpreisen gehörte Deutschland vor 1918 zu den führenden Staaten; Deutsch war die führende Wissenschaftssprache.
Unbestreitbar war die Gesellschaft bestimmt von ungeheuren sozialen Gegensätzen und vielfältigen Benachteiligungen, aber es wurden eben auch wegweisende Reformen durchgeführt, die gerade den sozial Schwächeren der Gesellschaft zugutekamen, so die Einführung der Kranken-, der Unfall- und der Rentenversicherung. Auch wenn die politische Motivation solcher Reformen erkennbar ist, so bleibt die faktische Hilfe für die Schwachen. Selbst heute, fast 150 Jahre später, sind solche Systeme gelebter Solidarität nicht in allen Staaten gegeben.
Die demokratischen Defizite des Reiches bleiben gleichwohl unübersehbar, und die Verfolgung von Sozialdemokraten und Katholiken gehören zu den langen nachwirkenden Schattenseiten dieser Epoche. Und doch gilt, was Reinhard Müller kürzlich in der ‚Frankfurter Allgemeinen Zeitung‘ formuliert hat: Das 1871 gegründete Reich hat Fundamente gelegt, auf denen wir heute noch stehen. So wie sich die zwölf Jahre zwischen 1933 und 1945 selbst vor dem Hintergrund der 1200jährigen deutschen Geschichte nicht relativieren lassen, so waren die 47 Jahre des Kaiserreichs keine “Dunkelzeit“, “kein Unterdrückungsstaat“, der systematisch den Boden für das Schlimmste der deutschen Geschichte vorbereitet hat, wie es von anderer Seite gesehen wird.
Blicken wir also kritisch, aber unideologisch, und ein Stück weit auch dankbar auf das zurück, was am 18. Januar 1871 begonnen wurde.
Mit allen guten Wünschen
Georg Friedrich
Prinz von Preußen